Ines Kohl

Am Übergang zum Nichts

Gefäße von Gabriele Hain

 

„Die plastischen Gebilde sind Körper. Ihre  Masse, aus verschiedenen Stoffen bestehend, ist vielfältig gestaltet. Das Gestalten geschieht im Abgrenzen als Ein- und Ausgrenzen. Hierbei kommt der Raum ins Spiel. Es wird vom plastischen Gebilde besetzt, als geschlossenes, durchbrochenes und leeres Volumen geprägt. Bekannte Sachverhalte und dennoch rätselhaft.“ Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum. Erker-Verlag St.Gallen, 1983² 

 

Wenn man hinpusten würde, er flöge weg, der Sakebecher. Leicht wie ein Schmetterling liegt er in der Hand, man spürt ihn kaum. Selbst die Japaner schüttelten die Köpfe über die Feinheit, zu der Gabriele Hain das Porzellan ausarbeitet, dünn wie Pergament, und über die taktile Empfindsamkeit, mit der sie das Material bis an die Grenze des Nichts treibt. Wenn man frühere Arbeiten sieht, etwa aus den 80ern, auch 90erJahren, ist die Richtung ihrer Entwicklung klar zu erkennen. Doch die zunehmende Entmaterialisierung ist beeindruckend, einerseits was die Transparenz des Materials angeht, andererseits was die Durchbrechung und Skelettierung der Gefäße hin zu einem minimalen, doch Form bestimmenden Gerüst betrifft. In beiderlei Hinsicht überschreitet Gabriele Hain Grenzen. Bei ihrem ersten Aufenthalt in Japan wollte man ihr weismachen, dass das japanische Porzellan nicht transparent sei. Für Gabriele Hain war dies eine Herausforderung. Sie testete vier Massen, entschloss sich nach dem Brand für zwei - New Bone und White 100 - und zeigte ihren faszinierten Gastgebern, dass diese sehr wohl durchscheinend werden, wenn man nur dünn genug gießt, bis zum Verschwinden dünn.

Ihr Repertoire bleibt auf wenige Grundformen beschränkt, Kuben, Rechteckformen, Halbkugel und Zylinder sind die Grundelemente, von denen ausgehend sie jeweils eine Vielzahl von Varianten entwickelt und deren Möglichkeiten sie durchspielt. Nicht die Vielzahl der Formen interessiert, sondern ihre erschöpfende Differenzierung. Alles ist hier zart, feingliedrig und wohl durchdacht, die Funktion von Gebrauchsgegenständen und raffiniertem Design basiert auf der Grundlage angewandter Geometrie.

Material und Form sind die beiden Faktoren, mittels derer Gabriele Hain ihre Forschungen betreibt. Denn so muss man es nennen, wenn sie die spezifischen Möglichkeiten des Materials nach allen Regeln der Kunst ausschöpft und etwa darüber Buch führt, wie sie die Sachen schneidet. Die Auflösung der Form ist die Triebfeder ihrer Arbeit: Wie tief kann man schneiden, bevor die Wandung durchbrochen wird, wie weit kann man eine Form skelettieren ohne sie zu zerstören? Wann knickt sie ein? Eine Frage, die oft erst nach dem Brand beantwortet wird.

Auch das sieht Gabriele Hain als Erfahrungswert, der ihr zeigt, in welche Richtung sie weiter arbeiten kann. Das Material sei so wunderbar, sagt sie, nur die Zeit, die sei eben immer zu  kurz. Kein Wunder, wenn für manches Stück Monate aufgewendet werden und auch dann noch nicht sicher gestellt ist, dass es ihrer Vorstellung entspricht. Manchmal hat sie das Gefühl, andere Proportionen wären vielleicht besser. Dann kann es passieren, dass sie einfach noch einmal von vorn beginnt. Ein gewisses Quäntchen Masochismus, gesteht sie zu, muss wohl dabei sein. Mit den geschnittenen und Partialformen geht sie absolut an die Grenzen des Materials. Erste, von der Künstlerin so genannte „Transformen“, durchbrochene und fast durchbrochene Gefäße, die sich durch den Brand verändern, entstanden bereits in New York 1987. Seit 2000 bearbeitet sie das Thema methodisch und in Serien. Auf einen dünnwandig gegossenen Zylinder werden mehrere Schichten eingefärbter Masse in geometrisch klar definierten Umrissen mit einem japanischen Pinsel aufgetragen. Durch die so entstehenden unterschiedlichen Oberflächenspannungen wird während des Brandes der ursprünglich kreisrunde Querschnitt nach oben hin fast zu einem – etwas lappigen – Quadrat, Dreieck oder Oval deformiert. Durch weiteres Ausdünnen, Reliefieren oder Perforieren der Wandung wird dieser verformende Effekt verstärkt. 

Die Werkreihe der Schnittformen wurde 2001 begonnen. In noch feuchtem oder schon leicht angetrocknetem Zustand werden an den gegossenen Kuben, Quadern oder Zylindern, eine oder mehrere Kanten aufgeschnitten oder auch ganze Teile aus der Wandung herausgenommen. Beim Brennen schwindet die Masse um circa 13%, dadurch verformen sich die Gefäße und knicken zum Teil ein. Das Kräftespiel der Spannungen bei Brand und Schwund ist aufregend und lässt sich nicht völlig kontrollieren. „Verbeugung“ nennt sie mit einer Reminiszenz an Japan solche eingeknickten Gefäße, die instabil gelagert sein können wie ein wippendes Spielzeug oder an einen Torso erinnern. 

Mit den „Partialformen“, die ab 2004 entstehen, werden die Schnittformen in Richtung einer radikalen Entmaterialisierung weiter getrieben. Teile werden bis zur Hälfte einer Form  weg- geschnitten. Durch den einseitigen Glasurauftrag unterstützt, verformt sich während des Brandes das Gefäß. Hain startet Versuchsreihen darüber, wie Masse- und Glasurauftrag hier Einfluss nehmen, was wiederum zu verschiedenen Strukturierungen und farbigen Gliederungen führt. 

2003 war Gabriele Hain sechs Wochen als „Artist in Residence“ zu Gast in der japanischen Stadt Seto. Sie brachte eine bleibende Begeisterung für Japan mit, für die Keramik, die Menschen und die paradiesischen Arbeitsbedingungen dort. Vielleicht auch deshalb ist der „Special Judge’s Award for Design“, der ihr 2005 beim „7th International Ceramics Competition“ in Mino verliehen wurde, der für sie wichtigste Preis unter den zahlreichen Auszeichnungen, die sie in den 20 Jahren ihrer Freiberuflichkeit erwarb. 

Doch ein künstlerisches „Mitbringsel“ aus Japan waren ihre „Seto-Becher“. Die schlichten, konischen Formen werden für verschiedene Anlässe entsprechend unterschiedlich gestaltet. Hier gibt es sogar dickwandige Becher, weiß oder mit fein farbigen Rändern, transparent glasiert oder außen unglasiert. Gedacht für Tee, sind sie, wie ich erfahren durfte, auch für  Capuccino wunderbar geeignet. Den Gegensatz von glatter Glasur und samtig rauer Außenhaut liebt Gabriele Hain nicht nur bei den Bechern. Auch bei vielen ihrer anderen Gefäße finden sich die Gegensätze von glatt und rau, farbig und weiß, aufgetragener farbiger Masse und glatter Fläche.  

Der Unterschied zwischen funktionalem Gebrauchsgerät und dem Kunstgegenstand, losgelöst von seiner Funktion, ist aufgehoben. Das Gerät ist Kunst, die Dinge, die hier entstehen, sind für Gabriele Hain gleichbedeutend mit Plastiken oder Reliefs. „Für mich sind Sachen, die ich täglich verwende genauso wichtig, wie die Bilder an der Wand, die ich anschaue.“ Ob benutzbar oder nicht, jeder Becher, jede Schnittform ist ein Meditationsobjekt, das die Gedankengänge, die Konzentration und oft Monate lange Mühe in sich birgt. Für Gabriele Hain ist Porzellan nicht nur Material, sondern auch ein Medium, durch das sie Form und Raum miteinander in Dialog treten lässt. Heideggers Gedanken zur Leere des Raumes scheinen in den Schnittformen plastischen Ausdruck zu finden. Denn das Leere ist hier kein „Fehlen einer  Ausfüllung von Hohl- und Zwischenräumen“, sondern ein „Hervorbringen“ von Raum. Die plastische Form umschließt und definiert Raum, lässt Licht diffundieren oder ist raumdurchlässig; Gabriele Hains Bedürfnis, den Gegenstand weitestgehend zu entmaterialisieren, lotet eine  Grenze aus, die nicht überschritten werden kann – jenseits dieser Grenze liegt nur noch das Nichts. Diese philosophische Reflexion ist den Gefäßen immanent. Hierher gehört auch der Anteil, den der Mann der Künstlerin, der Maler Alois Hain, an ihrer Arbeit hat, wenn er, selten, ein Stück von ihr mit leichter Hand bemalt, nahezu immaterielle Farbspuren hinterlassend. Das sukzessive Entschwinden von Material, seine quasi homöopathische Verrdünnung in den Raum findet sich hier wieder. 

 

Am Übergang zum Nichts – Gefäße von Gabriele Hain

in: KeramikMagazinEuropa 1/07